In einer Zeit, in der jeder senden kann, aber kaum jemand wirklich zuhört, gewinnt die Fähigkeit des aufmerksamen Zuhörens eine neue Bedeutung. Der Medien-wissenschaftler Bernhard Pörksen hat sich intensiv mit diesem Phänomen auseinander-gesetzt und teilt in seinem neuen Buch "Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen" wichtige Erkenntnisse über die Herausforderungen und Chancen des Zuhörens in unserer modernen Gesellschaft.
Die zwei Ohren des Zuhörens
Eine zentrale These Pörksens ist die Unterscheidung zwischen dem "Ich-Ohr" und dem "Du-Ohr". Das Ich-Ohr steht für eine egozentrische Aufmerksamkeit, bei der wir hauptsächlich darauf achten, ob das Gehörte unserer eigenen Wahrnehmung entspricht. Wir hören dabei im Grunde nur uns selbst. Das Du-Ohr hingegen repräsentiert eine nicht-egozentrische Aufmerksamkeit, bei der wir versuchen, die Welt des anderen zu verstehen und die Frage zu beantworten: In welcher Welt ist das, was der andere sagt, wahr und plausibel?
Graphik: napkin.ai prompted by Doris Kaufmann
Digitale Herausforderungen des Zuhörens
Die aktuelle Medienrevolution, die dritte grosse nach der Erfindung der Schrift und des Buchdrucks, stellt besondere Herausforderungen an unsere Fähigkeit zuzuhören. In einer Welt der "Totalresonanzsimulation", wie Pörksen es nennt, hat theoretisch jeder die Möglichkeit, vor einem Weltpublikum aufzutreten. Doch die Realität zeigt oft nur ein einzelnes "Like" oder gar keine Reaktion.
Die digitalen Medien, gestaltet von den "intelligentesten Silicon Valley-Spezialisten", sind darauf ausgerichtet, unsere Aufmerksamkeit zu fragmentieren und uns ständig abzulenken. Das menschliche Gehirn ist für dieses "Multitasking" nicht ausgelegt - es verarbeitet Reize sequentiell, nicht parallel. Das ständige Aufgabenwechseln ist anstrengend und führt oft dazu, dass wir nichts wirklich wahrnehmen.
Zuhören als gesellschaftliche Kraft
Die Bedeutung des Zuhörens zeigt sich besonders in Krisenzeiten. Pörksen illustriert dies am Beispiel des Ukraine-Kriegs und der Initiative "Papa Believe" von Misha Katsurin. Dessen Versuch, durch gezieltes Zuhören und Dialog eine Brücke zwischen ukrainischen und russischen Familienmitgliedern zu bauen, zeigt sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen des Zuhörens in extremen Situationen.
Die Notwendigkeit einer neuen Kultur der Kontemplation
Pörksen plädiert für eine "neue Kultur der Kontemplation" - keine utopische Vorstellung, sondern eine praktische Notwendigkeit. Er sieht in den individuellen Geschichten und Beispielen "Lücken der Freiheit", die zeigen, was möglich ist. Dabei geht es nicht um fertige Rezepte, sondern um eine grundsätzliche Haltung: das Zögern vor schnellen Urteilen, das Neulernen und die Bereitschaft, wie ein Kind noch einmal hinzuschauen und wirklich zuzuhören.
Die Parabel vom Clown
Die Geschichte des brennenden Zirkus und des nicht gehörten Clowns, die Pörksen von Kierkegaard übernimmt, verdeutlicht eine zentrale Herausforderung des Zuhörens: Wie können wir uns von unseren unmittelbaren Urteilen und vorschnellen Einschätzungen lösen? Der Clown, der verzweifelt versucht, die Dorfbewohner vor dem sich ausbreitenden Feuer zu warnen, aber aufgrund seiner Erscheinung nicht ernst genommen wird, symbolisiert die Notwendigkeit, über unsere vorgefassten Meinungen hinauszuwachsen und wirklich zuzuhören - selbst wenn die Botschaft aus einer unerwarteten Quelle kommt.
Reflexionsfragen zum Essay
1. Wie bewusst sind Sie sich Ihres "Ich-Ohrs" und "Du-Ohrs" im alltäglichen Gespräch?
2. Wann haben Sie das letzte Mal das Gefühl gehabt, dass Ihnen wirklich zugehört wurde?
3. Wie gehen Sie mit der ständigen digitalen Ablenkung in Ihrem Leben um?
4. Welche Rolle spielt das Zuhören in Konfliktsituationen?
5. Wie können wir eine Balance zwischen Weltoffenheit und notwendiger Abgrenzung finden?
6. Inwiefern hat die Social-Media-Kultur unser Zuhörverhalten verändert?
7. Was bedeutet es für Sie persönlich, einem Menschen "wirklich zuzuhören"?
8. Wie können wir in einer Zeit der Informationsüberflutung wichtige von unwichtigen Nachrichten unterscheiden?
9. Welche Rolle spielt Zuhören bei gesellschaftlichen Veränderungsprozessen?
10. Was können wir von der Geschichte des Clowns für unsere eigene Zuhörpraxis lernen?
11. Wie können wir in einer von Algorithmen gesteuerten Medienwelt echte Begegnungen schaffen?
12. Welche Bedeutung hat das Zuhören für die Lösung globaler Krisen wie den Klimawandel?
Glossar: Zentrale Begriffe zur Kunst des Zuhörens nach Bernhard Pörksen
A
Autarke Abgrenzung
Die bewusste Distanzierung von Informationen und Eindrücken; kann problematisch sein, wenn sie zu einem "Feiern der Gleichheit" und völliger Isolation führt.
D
Drei grosse Medienrevolutionen
1. Die Erfindung der Schrift
2. Die Erfindung des Buchdrucks
3. Die Vernetzung der Welt (digitaler Medienwandel
Du-Ohr
Form der nicht-egozentrischen Aufmerksamkeit; beschreibt ein Zuhören, das darauf ausgerichtet ist, die Welt des anderen zu verstehen und die Frage zu beantworten: "In welcher Welt ist das, was der andere sagt, wahr und plausibel?"
I
Ich-Ohr
Form der egozentrischen Aufmerksamkeit; beschreibt ein Zuhören, das darauf ausgerichtet ist, ob das Gehörte der eigenen Wahrnehmung entspricht.
Innere Gastfreundschaft
Metapher für die Bereitschaft, sich dem Anderen zu öffnen und dessen Perspektive Raum zu geben.
K
Kommentierender Sofortismus
Der Zwang, andere sofort zu verurteilen und zu etikettieren, ohne sich Zeit für tieferes Verstehen zu nehmen.
Kultur der Kontemplation
Ein von Pörksen geforderter gesellschaftlicher Zustand, der mehr Raum für Nachdenken, Zuhören und echten Austausch bietet.
L
Lücken der Freiheit
Momente und Räume, in denen echtes Zuhören und Verstehen trotz widriger Umstände möglich wird.
M
Multitasking
Von Pörksen als "Bullshit-Begriff" bezeichnet; beschreibt die Illusion, mehrere Aufgaben gleichzeitig effektiv bewältigen zu können.
P
Programmierung von Unterbrechungen
Die gezielte Gestaltung digitaler Medien, um Nutzer:innen abzulenken und ihre Aufmerksamkeit zu fragmentieren.
S
Sequentielle Verarbeitung
Die Art und Weise, wie das menschliche Gehirn Informationen verarbeitet - eines nach dem anderen, nicht parallel.
T
Totalresonanzsimulation
Begriff für die trügerische Suggestion der sozialen Medien, dass jeder gehört werden und Resonanz erzeugen könnte.
W
Weltöffnung
Die Bereitschaft, sich der Welt und anderen Perspektiven zu öffnen; kann laut Pörksen auch in die "totale Verzweiflung" führen, wenn nicht ausbalanciert.
Weltverbundenheit
Von Pörksen propagierter Zustand der Balance zwischen Offenheit für die Welt und notwendiger Abgrenzung.
Z
Zuhören als Metapher
Pörksens Verständnis von Zuhören als Bild für Offenheit und innere Gastfreundschaft gegenüber anderen Perspektiven.
Zuhörer der Zukunft
Beschreibt einen Menschen, der sich im entscheidenden Moment selbst vergessen und sich wirklich dem anderen zuwenden kann.
Zukunft als Bedrohung
Konzept, das erklärt, warum Menschen gegenüber bestimmten Warnungen (z.B. Klimakrise) taub bleiben - weil die Zukunft schon immer als bedrohlich wahrgenommen wurde.
Quellen
Zuhören, Bernhard Pörksen, Herausgeber: Carl Hanser Verlag, Veröffentlichung: 28.01.2025
Kultur Talk, SRF 2 Kultur , 12.2. 2025
SRF Philosophie Sternstunde, Zuhören , 9.2.2025